56 | BOLD THE MAGAZINE TRAVEL | VIETNAM von der jahrhundertealten Fremdherrschaft Chinas. Als er der Schildkröte das Schwert zurückgeben wollte, fuhr es wie von Zauberhand gesteuert von selbst aus der Scheide heraus und verschwand mit dem Reptil in der Tiefe des Sees. Seither wird die Schildkröte des Hoan-Kiem-Sees in ganz Vietnam verehrt. 1968 wurde in dem See tatsächlich eine Jangtse- Riesenweichschildkröte entdeckt, von der es weltweit nur noch vier Exemplare geben soll. Wissenschaftler schätzten das Alter des Tieres auf rund 100 Jahre. Im Januar 2016 starb die Schildkröte. Staatliche Tageszeitungen und Fernsehsender verbreiteten die Nachricht. Überall im Land entzündeten Menschen Räucherstäbchen in Gedenken an das Tier, von dem viele annahmen, es sei das gleiche, das Vietnam einst den Frieden brachte. Der präparierte Panzer der Schildkröte ist in einem kleinen Tempel am See zu sehen, zu dem eine über dem Wasser schwebende rot lackierte Brücke führt. Seit ihrem Tod, sagt mir ein Kellner eines Cafés am See, liege eine gewisse Traurigkeit über dem Gewässer, sei doch denen, die die Schildkröte beim Luftholen sahen, Glück und ein langes Leben beschieden gewesen. Am Abend besuchen wir in einem Haus am See die Vorstellung des Wasserpuppentheaters, eine weltweit einmalige, fast tausend Jahre alte Kunstform. Die fünf täglichen Vorstellungen sind oft ausverkauft. Die Bühne ist ein Wasserbecken, in dem bis zu 70 Zentimeter große Figuren Volkstänze aufführen, Legenden erzählen und historische Begebenheiten nachspielen. Die Spieler sind hinter einem Vorhang verborgen und bewegen die Figuren mit Stangen. Erst wenn sich am Ende der Aufführung der Vorhang hebt, sieht der Besucher, dass die Puppenspieler hüfthoch im Wasser stehen. Begleitet wird das Theater von Musikern, die neben der Bühne auf traditionellen Instrumenten spielen und singen. Ein besonderer Theaterabend und ein schöner Abschied von Vietnams Hauptstadt mit ihrer tausendjährigen Geschichte. Am nächsten Tag geht es weiter zur Halong-Bucht – die Bucht des herabsteigenden Drachens. Rund dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt an die Küste des Südchinesischen Meers, südöstlich von Hanoi in die Provinz Quang Ninh – die meist entlang von Reisfeldern, in einer flachen Landschaft, führt. Wir gehen an Bord eines Schiffes von Bhaya Cruises, mit 20 geräumigen Kabinen mit Balkonen, großem Sonnendeck und Restaurant. Direkt nach dem Einchecken legt das Schiff ab und kreuzt die nächsten zwei Tage in einer der faszinierendsten Meereslandschaften der Welt. Und auch um die Entstehung der mehr als 3.000 Kalksteininseln mit ihren bizarr verkarsteten Felsnadeln, Bergkegeln und Zuckerhüten, Tropfsteinhöhlen und Grotten zu beschreiben, wird in Vietnam gern eine Sage bemüht: Ein zorniger Drache stieg einst vom Himmel herab, als die Bauern des Landes von Feinden aus dem Norden, dem heutigen China, angegriffen wurden, und schlug die Flotte mit Peitschenhieben seines Schwanzes in die Flucht. Dabei verwüstete er den Landstrich, der nun von tiefen Kerben und Scharten durchzogen war. Als der Drache im Meer versank, verdrängte er soviel Wasser, dass Täler und Schluchten überflutet wurden und seither nur noch die Gipfel aus dem Wasser ragen. Die maritime Landschaft zieht inzwischen jedes Jahr Zehntausende von Besuchern an, Hunderte Ausflugsboote und Schiffe kreuzen für ein paar Stunden oder mehrere Tage in der Bucht, was Umweltschäden wohl unvermeidlich nach sich zieht. Zum Zeitpunkt unserer Reise Ende April hält sich das Besucheraufkommen noch in Grenzen, obwohl Hochsaison ist. Viele Boote kehren abends in den Hafen bei Halong-Stadt zurück, und die großen Dschunken ähnelnden Schiffe mit Übernachtungsgästen verteilen sich auf mehrere Buchten. In unserer Nähe liegt nur ein weiteres Schiff vor Anker. So entfaltet die Landschaft zum Sonnuntergang ihre ganze Magie. Die Stille der Natur legt sich über die Bucht, die Bergkegel und Felsnadeln verwandeln sich in Silhouetten aus mythischen Fabelwesen. Wir fragen nach den Schwimmenden Dörfern in der Bucht, und der Kapitän sagt: „Die Regierung hat die Bewohner dieser Dörfer auf eine der großen Inseln in der Bucht angesiedelt.“ Die Schwimmenden Dörfer – es gibt sie nicht mehr, sie sind Opfer eines ungezügelten Massentourismus geworden. Robert Asam hat 2014 in seinem Buch „Vietnam“ das Verschwinden der Schwimmenden Dörfer antizipiert: „Die Regierung werde die Bewohner wahrscheinlich wegen
TRAVEL | VIETNAM BOLD THE MAGAZINE | 57
LIFESTYLE | FASHION | DESIGN | MOTI
Rolf Benz NUVOLA * Bis zum 30.04.20
Laden...
Laden...
Laden...
© BOLD THE MAGAZINE: www.bold-magazine.eu | BOLD THE MAGAZINE ist eine Publikation des Verlages: neutrales GRAU Agentur für Kommunikation & Verlagsgesellschaft UG (haftungsbeschränkt): www.neutralesgrau.de | HR NR: 121 118 B | UMST ID: DE 815 10 18 78 | Am Pankepark 48 | 10115 Berlin | Telefon: 030 40 00 56 68 | Geschäftsführung: Mike Kuhlmey
Follow Us
Facebook
Google+
Xing
Youtube
Pinterest